Klaviermusik und Kammermusik des 19. Jahrhunderts

Klaviermusik und Kammermusik des 19. Jahrhunderts
Klaviermusik und Kammermusik des 19. Jahrhunderts
 
Die Entwicklung des modernen Flügels zu größerem Klangvolumen und subtil reagierender Spieltechnik durch Sébastien Érard (Repetitionsmechanik 1821) führte zu einer immensen Produktion von Klavierkompositionen. Zugleich veränderten sich deren Stil und Gattungsschwerpunkte. Die Klaviersonate wurde in der Nachfolge Beethovens, dessen Werke als unerreichbares Vorbild galten, zu einem eher problematischen Schaffensgebiet, was zum Beispiel schon die vielen Fragmente und Entwürfe Franz Schuberts ebenso wie die ganz eigene Klangwelt seiner späten großen Sonaten belegen.
 
Im Klavierschaffen der Hoch- und Spätromantik ist die Sonate nur noch die Ausnahme. Dennoch gehören einige von ihnen zu den bedeutendsten Beispielen der Gattung. Das gilt für die beiden klangsensiblen Klaviersonaten von Frédéric Chopin ebenso wie für die vier Sonaten und sonatenähnlichen Werke von Robert Schumann. Themenbildung, Form, Harmonik und ein poetisches Spiel mit verschlüsselten Anspielungen dokumentieren ein Gattungsverständnis, das sich von dem der Wiener Klassik grundlegend abhebt. Unter den Werken der folgenden Generation sind die drei Sonaten des etwa 20-jährigen Johannes Brahms in ihrer erstaunlichen Klanggewalt und klaren Formgestaltung besonders hervorzuheben. Um die gleiche Zeit, im Jahre 1853, entstand die große Sonate in h-Moll von Franz Liszt. Sie besteht aus einem einzigen, vielfach untergliederten Satz und bildet konzeptionell und pianistisch sowie in der Kraft und Tiefe des Ausdrucks ein singuläres Werk in der Geschichte der Klaviersonate.
 
Ungleich häufiger als Sonaten schrieben die Komponisten des 19. Jahrhunderts kürzere, vorwiegend lyrische Stücke für Klavier, deren Titel oft auf eine in ihnen anklingende Stimmung oder Situation verweisen. Diese »Charakterstücke« sind durch ihre liedhafte, erzählende, pittoreske oder virtuose Einfärbung sowie durch die Freiheit ihrer Struktur bezeichnend für die Klang- und Inhaltsästhetik dieser Zeit. Frühe Beispiele bilden die »Eklogen« (1810/11) von Václav Jan Tomášek und die davon beeinflussten »Impromptus« und »Moments musicaux« (1827/28) von Schubert, aber auch die auf Chopin vorausweisenden »Nocturnes« (1814) von John Field. Im Schaffen Chopins, der fast ausschließlich Klaviermusik schrieb, wurden Charakterstücke zur beherrschenden Gattung. Ihre Titel (»Nocturnes«, »Impromptus«, »Balladen«, »Scherzi«, »Préludes« u. a.) meiden die Fixierung auf benennbare Inhalte. Sie bilden aber gerade dadurch das ideale Medium für Chopins poetischen Klang- und Melodiestil und für seine neuartige Kunst der romantischen Klavierminiatur.
 
Aus der rasch anwachsenden Produktion von Charakterstücken sind die »Lieder ohne Worte« (1829 bis 1845) von Felix Mendelssohn Bartholdy und die »Lyrischen Stücke« (1867 bis 1901) von Edvard Grieg hervorzuheben. Als zentrale Beispiele der Gattung aber gelten die genialen Klavierstücke Schumanns, die er inhaltlich und kompositorisch zu Zyklen zusammenfasste: »Papillons«, »Davidsbündlertänze«, »Carnaval«, »Fantasiestücke«, »Kinderszenen«, »Kreisleriana«. Viele von ihnen basieren auf einem kurzen, prägnanten Einfall und tragen fantasievolle Titel, die einen dichterisch charakterisierenden Hintergrund aufscheinen lassen, aber stets nur als andeutende Hinweise zu verstehen sind.
 
Inhaltlich präziser festgelegt sind die meisten Charakterstücke von Liszt, die zum großen Teil in Sammlungen wie das »Album d'un voyageur« (1835/36) oder »Années de pèlerinage« (1835 bis 1877) erschienen sind. Bis zur mittleren Schaffenszeit wird ihr bildlicher oder erzählender Gehalt zumeist mit virtuoser Klaviertechnik verbunden, pianistisch stark reduziert wirken dagegen die ergreifenden, resignativen Gestaltungen des Spätwerks (»Nuages gris«, »Schlaflos«, »Unstern«, alle nach 1880). Im Gegensatz dazu sind die Charakterstücke von Brahms kaum inhaltlich bestimmbar (»Balladen« opus 10, »Klavierstücke« opus 76, »Rhapsodien« opus 79). Ihre kompositorische Bedeutung liegt in der dichten Struktur und konzentrierten motivischen Verarbeitung, insbesondere bei den Klavierzyklen der letzten Schaffensphase wie den »Fantasien« opus 166, den »Intermezzi« opus 17 sowie den »Klavierstücken« opus 118 und 119, die alle 1892 entstanden sind.
 
Im Bereich der Kammermusik führte die dominierende Stellung des Klaviers ebenfalls zu bezeichnenden Umgewichtungen. Nicht mehr, wie in der Wiener Klassik, das Streichquartett, sondern Werke für Klavier und Streicher stehen im Vordergrund. Insbesondere das Klaviertrio ist bei Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms, Max Reger und vielen anderen Komponisten durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch prominent vertreten, im außerdeutschen Bereich vor allem bei Peter Tschaikowsky, César Franck, Bedřich Smetana und Antonin Dvořák. Bedeutende Beispiele größerer Besetzungen (Klavierquartette, Klavierquintette) finden sich bei Schumann, bei Dvořák und bei Brahms, dessen Werke insgesamt als Höhepunkt und Vollendung romantischer Kammermusik mit Klavier anzusehen sind. Unter Brahms' Nachfolgern war Reger mit über 20 Werken dieser Gattungen der herausragende Komponist, der das klassisch-romantische Erbe über das Jahrhundertende hinaus legitim fortführte.
 
Es fällt auf, dass sich unter den Komponisten des 19. Jahrhunderts nur diejenigen mit Kammermusik befassten, deren Stil und Ästhetik eher bewahrend an die Wiener Klassik anknüpfte. Musiker des »Fortschritts« wie Richard Wagner, der sich ganz auf das Musikdrama konzentrierte, oder die neudeutsche Schule um Liszt, in der die programmatische sinfonische Dichtung im Vordergrund stand, haben die Kammermusik kaum oder gar nicht beachtet. Das gilt in besonderem Maße für die Gattung Streichquartett. Daher sind hier wiederum die gleichen Namen zu nennen, also Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms und Reger, Tschaikowsky, Smetana und Dvořák, Komponisten, die teils mit wenigen, aber bedeutenden Werken die Gattungstradition aufgriffen, vielfältig umwandelten und den Grund legten für die erneute intensive Beschäftigung mit dem Streichquartett im 20. Jahrhundert.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.
 Dahlhaus, Carl: Die Musik des 19. Jahrhunderts. Sonderausgabe Laaber 1996.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Michael Raeburn und Alan Kendall: Band 2: Beethoven und das Zeitalter der Romantik. Band 3: Die Hochromantik. München u. a. 1993.
 Rummenhöller, Peter: Romantik in der Musik. Analysen, Portraits, Reflexionen. Kassel u. a. 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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